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In der deutschen Kulturpolitik grassiert die cancel culture

Autorenbild: Hans-Jürgen WeissbachHans-Jürgen Weissbach

Aktualisiert: 5. Feb. 2024

Von der documenta bis zur Buchmesse herrscht eine arrogante cancel culture. Linksliberale und rechtskonservative Medien rücken zusammen. Zugleich ist ein kulturpolitischer Scherbenhaufen entstanden, der im jüngsten Rücktritt der documenta-Findungskommission gipfelte.


Die WELT schreibt (zum Glück hinter der Bezahlschranke):

und macht die "verheerende Ideologie" des Postkolonialismus für den Terorismus verantwortlich, ebenso wie Jan Fleischhauer im Focus, der gegen A. Dirk Moses als Relativierer des Holocaust und gegen Judith Butler polemisiert (wie auch die ZEIT). Der Journalist Gideon Böss fragt, ob man die Postcolonial Studies an deutschen Universitäten nicht verbieten könne. Die Universitäten hatten damit Einen gewalttätigen antisemitischen Mob herangezüchtet.


Gleichzeitig fühlen sich bemüßigt, jeden Zusammenhang der aktuellen Kriege und Terroraktionen in Nahost mit dem Kolonialismus zu negieren, dessen Opfer die arabische Welt nach dem Zerfall des osmanischen Reichs und seit dem Sykes-Picot-Abkommen von 1926 wurde, oder sie kämen gar nicht auf die Idee, irgendeinen Zusammenhang dazwischen zu sehen.


Während Adania Shibli von der Buchmesse ausgeladen und Slavoj Žižek als Repräsentant des Gastlandes Slowenien von den Vertretern der deutschen Kulturpolitik attackiert wird, erhält Salman Rushdie als expliziter Gegner jeder cancel culture und wichtiger Vertreter der postkolonialen Literatur den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Kaum jemand hat diesen Widerspruch thematisiert, der zwischen der Unterbindung der Analyse und literarischen Darstellung des weiteren Kontextes und der Vorgeschichte terroristischer Verbrechen einerseits und der scheinheiligen Propagierung universeller Werte wie der Rede- und Kunstfreiheit andererseits besteht. Ersteres macht zum Beispiel die rechtskonservative WELT, wenn sie bei der Analyse der Vorgeschichte bis ins 11. Jahrhundert zu den Massakern an den Juden in Granada zurückgeht und gleichzeitig die Kontextualisierung des aktuellen Konflikts durch postkoloniale Autoren und Theoretiker moralisch diskreditiert. Die kulturpolitische Forderung der Vermeidung von Mehrdeutigkeit erweist sich als Sieg des Partikukarismus über den Universalismus, worauf Henry Urmann hinweist, und eine liberale Demokratie schießt damit ein Eigentor.


Die ausländische Presse ist irritiert über die deutsche "Palästinophobie" in der Kulturpolitik wie im Fall Shibli, so z.B.

Das sei keine Solidarität mit Israel mehr. Geklagt wird darüber, dass die Palästinenser in Deutschland keine Stimme mehr haben, obwohl sich doch Deutschland angeblich nach wie vor für eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzt.


Wolfgang Ullrich schreibt am 20.11.2023 im Tagesspiegel:

"...Schaut man genauer hin, stellt man fest, dass unter denen, die sich hier besonders engagieren, etliche ein Problem mit der gesamten Ausrichtung des Kulturbetriebs haben. Verhohlen oder unverhohlen stören sie sich schon länger daran, dass dieser sich so viel um Schwache und um Minderheiten kümmert, sind genervt von Frauenquoten und mehr Aufmerksamkeit für Schwarze oder Queere, haben etwas gegen die Rückgabe von Benin-Bronzen oder eine kritische Revision des Kanons.

Aber während sie bisher nur beleidigt oder rückständig erschienen, wenn sie ihren Unmut äußerten, haben sie nun ein fantastisches Mittel zur Hand, um die Kulturinstitutionen aus einer Position moralischer Hoheit anzugreifen. Letztes Jahr lieferte der Skandal um antisemitische Exponate auf der Documenta einen Vorgeschmack auf dieses neue Diskursformat.

Wille zur Verdrängung

So waren sie ein zuerst völlig berechtigter, dann im Lauf eines langen Sommers aber zunehmend auch zum Vorwand werdender Grund, um andere Themen und Debatten – über alternative Kunstbegriffe, über unterschiedliche Gewalterfahrungen, über Möglichkeiten und Grenzen von Kollektiven – gar nicht erst führen zu müssen, ja um die Anliegen des Globalen Südens komplett ignorieren zu können.

Revanchistisches Agitieren

Zeigte sich da bereits ein durchaus aggressiver Wille zur Verdrängung, so droht nun ein revanchistisches Agitieren gegen das Programm vieler Kulturinstitutionen wie auch gegen Menschen, die als zu fremd und zu anders empfunden werden, um unbehelligt hier leben zu dürfen.

Dass nun gerade der Kampf gegen Antisemitismus zu einer rassistischen und minderheitenfeindlichen Agenda genutzt wird, mit der statt des Schutzes der Schwachen das Recht des Stärkeren durchgesetzt werden soll, macht fassungslos. Denn zu diesem Kampf gibt es keine Alternative, zu den humanitären Anliegen, wie sie die Kulturinstitutionen vertreten, aber auch nicht.

Das eine gegen das andere ausspielen zu wollen, stellt also keine Option gar – so wie man umgekehrt der ihrerseits aggressiven Unterstellung nicht auf den Leim gehen darf, das einzige echte Problem seien der Rassismus und der Kolonialismus und nicht genauso der Antisemitismus."


1792 hatte Goya in einem Schreiben an den Direktor der Academia de San Fernando in Madrid für die völlige Freiheit der Kunst plädiert, dafür, dass es „keine Regeln in der Malerei“ gibt. Sein Schreiben endet mit einem eindringlichen Appell:

„Mein Herr, ich weiß kein wirksameres Mittel, die Künste zu fördern, als den Genius der Schüler, die die Künste erlernen wollen, sich in voller Freiheit entfalten zu lassen.“ Der spanische Hof schützte ihn trotz seiner kaum verhüllten Anklagen der herrschenden Mächte und seiner teils satirischen Darstellung der Mitglieder des Königshauses vor dem Zugriff der Inquisition.


Slavoj Žižek schreibt in der NZZ am 18.1.2019:

"Freiheit bedeutet stets die Freiheit, anderen weh zu tun. Sie wird im Zeitalter der sozialen Netzwerke durch ein Ethik der sanften Zensur ersetzt." Diese Zensur zielt offenbar auf die Herstellung eines Schwarzweiß-Universums, das nur "uns" auf der einen Seite und das "absolut Böse" suf der anderen anerkennt.

Slowenischer Stand auf der Frankfurter Buchmesse


"Das Verdrängen von Konkurrenten qua übler Nachrede war in bürgerlichen Konkurrenzgesellschaften stets eine so übliche wie erforderliche Praxis."

Marlon Grohn




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Henry Urmann
Henry Urmann
23 oct. 2023

Meine Hoffnung ist aber auch, dass alle wissen, dass Salman Rushdie, Slavoj Zizek und die hundert jüdischen Intellektuellen um Susan Neiman und Deborah Feldman auch die wohlmeinenden Zensoren des deutschen Feuilletons und die paternalistischen Politkommissare von Deitelhoff bis Uwe Becker entlarvt haben.

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