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"People's Justice" - ein Lagebild zur Wahl Mamdanis, des Fossilkapitals und der "antiextremistischen" Rhetorik

Aktualisiert: vor 44 Minuten

Von Henry Urmann und Hans-Jürgen Weißbach


Zohran Mamdani hat New York gewonnen. Der 34-jährige demokratische Sozialist besiegte den (vom eigenen Parteiestablishment wie auch von Trump unterstützten) skandalbehafteten demokratischen Ex-Gouverneur Andrew Cuomo ebenso wie den repubikanischen  Law-and-Order- und Selbstjustiz-Anhänger Curtis Sliwa, der schon mindestens 75 mal verhaftet wurde. Mamdani ist der jüngste NYC-Bürgermeister seit über einem Jahrhundert – und der erste muslimische überhaupt. Der Wahlkampf war mit Islamophobie, Israel-Kontroversen und „Unerfahrenheits“-Vorwürfen gespickt; trotzdem trug eine breit organisierte, kleinteilig finanzierte Kampagne Mamdani über die Ziellinie. 


Dass ausgerechnet er gewann, war – so berichten mehrere Analysen – eine Generationenfrage: Jüngere Wähler trugen ihn sichtbar; ihre Themen hießen Mieten, ÖPNV, soziale Infrastruktur – und eine andere Sprache zu Israel/Palästina.  Alle Daten deuten auf hohe Mobilisierung unter 18- bis 29-Jährigen; zugleich zeigen Umfragen einen klaren Generationseffekt in der Bewertung Israels und des Krieges.  Dem Minderheitsführer im Senat, Chuck Shumer (74), de facto Führer der Demokraten, ein verlässlicher Freund der Finanzwelt und Unterstützer Israels, der sich ohne genaue Begründung geweigert hatte, Mamdani zu unterstützen, wurde vorgeworfen, das Gespür für den generationalen und ideologischen Wandel verloren zu haben. Annie Karni umschrieb es am 5. November 2025 vorsichtig in der New York Times: „Schumer Rejects Charges He’s Out of Touch‘‘ – out of touch nämlich mit seiner eigenen Partei und den jungen Wählern.


Die Wahl Trumps hat dem fossilen Kapital in den USA eine Gnadenfrist beschert, die es hemmungslost nutzt. Die Wahl Mamdanis erhöht aber den Druck auf das Finanzkapital, das vor allem für die exorbitanten Steigerungen der Mieten und Lebenshaltungskosten in New York und anderswo verantwortlich gemacht wird. Eine fensterlose Einzimmerwohnung mit 30 Quadratmetern kostet 2000 US-$. Der mächtigste Gegner Mandanis innerhalb der Demokratischen Partei, Chuck Shumer, war es, der vor der Finanzkrise durch seine Unterstützung der massiven Deregulierung der Finanzwelt zur Finanz- und Immobilienkrise ebenso beigetragen hat wie er sich 2008 zur Rettung der Banken für das 700-Milliarden-Dollar-Bailout einsetzte.


„People’s Justice“ ist das seit Jahren präziseste Bild für die verheerende Dominanz der fossilen und Finanzindustrie – ein politisch-ästhetisches Lagebild. Die Künstler von Taring Padi haben den Ostflügel ihres Triptychons als Protestzug des Globalen Südens unter Führung Edward Saids gestaltet, der die Fackel der Freiheitsstatue trägt. Diese wird zum doppeldeutigen Zeichen: Freiheitsikonografie gegen neoliberale US-Freiheitsrhetorik. Die oberen Zonen verknüpfen Konzern- und Finanzmacht, Geheimdienst-Akkronyme, Symbole der Rohstoffausbeutung und mediale Beruhigungspolitik – „Don’t worry, be happy“ – zu einem Tableau der imperialen Gegenwart.


Im Westflügel erscheint eine „moderne Dämonologie“ – rätselhaft, doch identifizierbar in ihrer Ambivalenz. Alle haben etwas mit der kolonialen und postkolonialen asiatischen Geschichte, mit Aufstieg des Terrorismus oder dem Kampf gegen ihn zu tun. Im Diskurs um die documenta verdichtete sich der Streit um eine jüdisch markierte SS-Figur. Diese lesen wir als Henry Kissinger, ein klares politisch-intellektuelles Gegengewicht zu Edward Said. Beide Weltdeutungen prallen im Bild frontal aufeinander. Dass diese Lesart Affekte entfachte, lag daran, dass sie Machtsemantik entschlüsselt statt sie ehrfürchtig zu bebildern.


Die Öl- und Bank-Ikonografie des Bildes trifft den Nerv: das Fossilkapital und die Finanzhauptstadt der Welt sind siamesische Zwillinge. Das Geld der Öldynastien und insbesondere die Standard Oil-Erben der Rockefellers prägten die New Yorker Stadt- und die Kulturpolitik, das Mäzenatentum und die Kunstinstitutionen der USA.  Abby Aldrich Rockefeller war eine der Gründerinnen des Museum of Modern Art in New York. Die obere Bildzone bringt uns in unangenehmer Weise in Erinnerung, dass die symbolische Ordnung der Kunst in New York nie unberührt vom Geld der Ölmagnaten war – bis hin zur „Erfindung“ des abstrakten Expressionismus, mit dem die USA nach dem Zweiten Weltkrieg dem sündigen Paris den Rang als Weltmetropole der Kunst ablaufen wollten.


„People’s Justice“ ist kein Moralplakat, sondern zeigt die Operationen der globalen Verflechtungen auf: Rohstoffabbau (Gold-/Gelbtöne), Geheimdienste, Weltbank-Slogans, Opfer staatlicher Gewalt und Friedhofsinschriften von Genua bis Papua – und ein Publikum, das diese Schichten rekonstruieren, die Zusammenhänge der Elemente erkennen und sich dabei mehrere Jahrzehnte zurückdenken muss. Genau deshalb erzeugt das vielschichtige Werk methodisch einen historisch-sozialen „Gerichtsraum“ vor dem Bild: multiperspektivisch, streitbar, adressierend. Und dieser Gerichtsraum wurde durch die Abhängung des Bildes symbolisch zerstört, bevor er seine Funktion im Wayang-Spiel und im Dialog mit den Betrachtern erfüllen konnte.

Kissinger als „historische Ikone“ (David M. Wight) der US-Außenpolitik gehört in dieses Lagebild, weil sein Lebenswerk an neuralgischen Kreuzungen der hier gezeigten Themen verläuft: Realpolitik, Kupfer- und Goldminen, Indonesien, Geheimdienste. Außerdem nutzte er seine eigene Zelebrität schamlos aus. Er saß 1995–2001 im Board von Freeport-McMoRan, dem Betreiber der Grasberg-Mine in Westpapua; die sozialen und ökologischen Konflikte um Grasberg sind seit Jahrzehnten dokumentiert. Dass er parallel in Indonesien als politischer Berater hofiert wurde, illustriert die dichten Netzwerke von Politik, Rohstoffwirtschaft und Sicherheitsapparat.  Und er steht in der US-Innenpolitik für einen Stil der Abwehr, der jede Kritik als Unzuständigkeit, Naivität oder Gefährdung rahmt. Als Bush Kissinger im November 2002 an die Spitze der 9/11-Kommission berief, rebellierten Opferverbände wegen möglicher Interessenkonflikte. Kissinger trat nach wenigen Wochen zurück, statt der Forderung nachzukommen, seine Liste früherer Klienten offenzulegen. Der Vorgang wurde damals quer durch die Presse als Sieg der Transparenz gewertet – und als Lehrstück, wie Misstrauen, klug eingesetzt, Aufklärung erzwingt.


Christopher Hitchens hatte da bereits eine Anklageschrift in Buchform verfasst: „The Trial of Henry Kissinger“ – ein Kompendium deklassifizierter Belege zu Kambodscha, Bangladesch, Chile, Zypern, Osttimor. Hitchens’ Pointe: Es gebe prima facie Fälle für Verfahren wegen Kriegsverbrechen. Man muss zur Kenntnis nehmen, wie beharrlich das Dossier seither in Debatten über politische Verantwortung zitiert wird. Orwell hätte dazu nur trocken genickt: Sprache ist entweder Klärung – oder Euphemismus, der Denken erstickt. 


Zurück zur Wahl Mamdanis: Die Gegenseite hat verlässlichen Berichten zufolge massiv Geld mobilisiert. Medien nennen zweistellige Millionenbeiträge aus dem Milliardärsmilieu, organisiert über eine Vielzahl der berüchtigten Political Action Committees. Es reichte nicht. Daher wurde Mamdani als Antisemit geframt. Manche Interventionen entglitten ins offen Islamophobe, so etwa ein manipuliertes Mailer-Bild in einem Pro-Cuomo-Umfeld. Die Versuche, Kritik an israelischer Politik kurzerhand als Antisemitismus zu rahmen, dem sich auch die europäische Presse anschloss und immer noch anschließt (Neue Zürcher am 12. 11. 20125: „Dank Israel-Hass zum Sieg‘‘) stießen auf Gegenrede – auch in jüdischen Medien und Organisationen. 


Entscheidend für den Wahlsieg scheinen uns die demographische Entwicklung und der Generationenkonflkt. Jüngere Amerikaner blicken – in signifikanter Zahl – anders auf Israel/Palästina; sie sehen antimuslimische und antiarabische Diskriminierung schärfer. Muslime könnten bald die zweitgrößte Religionsgemeinschaft in den USA werden, und Arabisch ist in Michigan die häufigste Zweitsprache. Vor allem die maßlose Kriegsführung Israels in Gaza seit 2023 hat Bewertungen verschoben. Schon Kamala Harris musste sich trotz vieler in den Wahlkampf im Michigan investierten Millionen Trump 2024 auch in diesem Bundesstaat geschlagen geben, weil er versprach, den Nahen Osten zu befrieden. Das hätte ein Alarmsignal für die Fraktion der Demokraten sein können, die Israel fast bedingungslos unterstützen.


Dass Mamdani bei gleichzeitigem Werben um jüdische New Yorker und harter Zurückweisung der Antisemitismusvorwürfe gewann, ist kein Paradox, sondern ein Symptom: die Entkopplung moralischer Solidarität mit Jüd:innen von der Loyalitätsforderung gegenüber jedem Handeln der zunehmend rechtsradikalen israelischen Regierung. Auch die junge jüdische Generation ist in erster Linie an ihrer Zukunft in den USA interessiert, weniger an der Vergangenheit.  


Hier schließt „People’s Justice“ an: Oben thronen Öl und Banken – der fossile Überbau –, unten marschiert eine transnationale, zivil-republikanische Menge, die die Zeichen neu lesbar macht. Dass in Taring Padis Lesart Edward Said die Fackel trägt, ist klug: Die Ikone „Freiheit“ wird gegen die Rhetorik der neoliberalen imperialen Freiheit gestellt. So funktioniert Gegen-Hegemonie: durch semantische Rückeroberung. 


Orwell und Hitchens würden lachen über Mamdanis Sieg – aus Erleichterung, nicht aus Häme. Orwell, weil er in Mamdanis Sieg einen sprachkritischen Erfolg sähe: die Zurückweisung der schlechten Sprache, die Sozialkritik als „Extremismus“ oder „Populismus“ etikettiert. Hitchens, weil ein Kandidat gewann, der die alte Hofetikette nicht teilt und sich nicht von plumper Sakralisierung politischer Allianzen und gemeinsamer „Werte“ einschüchtern ließ – genau der Punkt seiner Kissinger-Kritik. Beide wussten, dass Klartext ohne Archiv nichts ist; beide forderten, dass Archive nicht zur Ausrede werden, klar zu sprechen. 


Dass Rockefellers Öl-Epoche in New Yorks Kulturarchitektur tief eingraviert ist, mindert die Leistung heutiger Kurator:innen nicht – aber es kontextualisiert sie. MoMA war von Beginn an ein Kind dieser Klasse; moderne Kunst wurde in Manhattan nie außerhalb der großen Privatvermögen verhandelt. „People’s Justice“ notiert das nicht verdruckst, sondern mit klaren Vektoren: von der Pipeline des 20. Jahrhunderts zur Pipeline der Sinnproduktion.


Die Wahl Mamdanis wie das Bild zeigen, dass Sprache, Geld, Gewalt und Tabus nur so lange eine Allianz bilden, wie niemand über die Legende lacht. Eine Stadt, die jahrelang lernte, dass Sicherheit immer neue Überwachungskameras, mehr Polizeieinsatz und private Security-Dienste bedeutet (wofür Mamdanis republikanischer Gegenkandidat Sliwa, ein professioneller „Verbrechensbekämpfer“ steht), wählte jemanden, der Sicherheit als in bezahlbaren Wohnungen und ohne Essensspenden lebbare, solidarische Infrastruktur buchstabiert. Dass dieser nach Jahren der Denunziation als „weltfremd“, als jemand, der "nie einen richtigen Job hatte und nie etwas erreicht hat" (so Cuomo) nun Mehrheiten findet, ist weniger Überraschung als Krönung eines langen hermeneutischen Lernprozesses – quasi vom Bild zum Wahlzettel.


Doch bleibt Arbeit. Billionäre verschwinden nicht; fossile Kapitalflüsse enden nicht mit einem Wahlabend; die Konfliktlinien um Antisemitismus, Israelkritik und antimuslimischen Rassismus bleiben heikel. Aber genau hier hilft das Lagebild: Orientierung im Nebel, kein Trostbild. In diesem Sinn bestätigt Mamdanis Sieg die Kraft eines Werks, das nie bequeme Identitätspolitik versprach, sondern die unbequeme Rekonstruktion der Verhältnisse. Die Abhängung des Bildes muss man daher als Eingeständnis betrachten, dass die in Erinnerungsritualen und Geschichtstabus erstarrte deutsche Gesellschaft die dialogische Rekonstruktion ihres Verhältnisses zum Globalen Süden verweigert.


Damit wären wir jedoch schon bei einem neuen traurigen Kapitel der deutschen Geschichtspflege durch den Kulturstaatsminister Wolfram Weimer, der die Erinnerung an den deutschen Kolonialismus nicht im Kernbestand unserer Erinnerungskultur dulden möchte und die Rangfolge der Opfer fein säuberlich nach ihrer Dignität abstuft, paradoxerweise mit dem Argument, die Verbrechen an ihnen seien nicht vergleichbar ...

 
 
 

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