"Verfassungsrechtlicher Eingriffsgrund kann [...] im Hinblick auf die Kunstfreiheit mithin nur sein, Rechtsgutsverletzungen zu unterbinden. Der Gesetzgeber kann insbesondere an Äußerungen anknüpfen, die über die Überzeugungsbildung hinaus mittelbar auf Realwirkungen angelegt sind und etwa in Form von Appellen zum Rechtsbruch, aggressiven Emotionalisierungen oder der Herabsetzung von Hemmschwellen rechtsgutgefährdende Folgen unmittelbar auslösen können. Auch im Hinblick auf die Kunstfreiheit und ihre Grenzen ist zwischen rein geistigen Wirkungen und rechtsgutverletzenden Wirkungen zu unterscheiden.
Nur unter diesen einschränkenden Voraussetzungen trifft die Äußerung der Kulturstaatsministerin Claudia Roth unter rechtlichen Aspekten zu, die Kunstfreiheit finde ihre Grenzen in dem Schutz gegen Antisemitismus. Nur mit dieser verfassungskonformen Interpretation des Tatbestands der Störung des öffentlichen Friedens stellt der objektive Tatbestand der Volksverhetzung, § 130 Abs. 1 StGB, eine verfassungsunmittelbare oder verfassungsimmanente Schranke der Kunstfreiheit dar und setzt dem Prinzip der freien geistigen Auseinandersetzung verfassungslegitime Grenzen..
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Die künstlerische Leitunng einer Ausstellung ist aufgrund der auch für sie streitenden Kunstfreiheitsgarantie im sogenannten Wirkbereich rechtlich in der Lage, darüber zu entscheiden, welche Kunstwerke in die Ausstellung aufgenommen werden sollen, selbst wenn diese Ausstellung von der öffentlichen Hand rechtlich getragen und mit öffentlichen Mitteln finanziert wird und das Kunstwerk die rechtlichen Grenzen der Kunstfreiheit nicht überschreitet. Im vorliegenden Fall der documenta fifteen hätte die künstlerische Leitung also ohne jeden Zweifel die Ausstellung eines Werkes mit eindeutig antisemitischen Elementen aus wohl erwogenen politischen Gründen wegen der historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Vorbedingungen in Deutschland nicht nur ablehnen dürfen, sondern ablehnen müssen.
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Die freiheitliche rechtsstaatliche Demokratie ist sicherlich eine „inhärent riskante Ordnung“.10) Herausforderungen wie die durch Hass, Rassismus und Antisemitismus gehören schon immer zu den Risiken, die die freiheitlichen rechtsstaatlichen Demokratien um der Freiheit willen immer wieder eingehen und bestehen müssen. Der Staat hat sicherlich die freiheitliche demokratische und rechtsstaatliche Ordnung zu sichern, aber eben ausschließlich mit den Mitteln des Rechtsstaats. Konstitutives Merkmal des Rechtsstaats sind aber die Freiheitsrechte, wozu sicherlich das Grundrecht der Kunstfreiheit gehört. Sie darf nur auf gesetzlicher Grundlage und ausschließlich zum Schutz höher- oder zumindest gleichrangiger verfassungsrechtlich geschützter Rechtsgüter der Allgemeinheit oder des Einzelnen, nicht aber zur Durchsetzung einer „guten Moral“ eingeschränkt werden. Ich möchte hier den Satz des bekannten Bonner Staatsrechtslehrers Josef Isensee zitieren: „Die Sonne der Freiheit scheint über Weizen und Unkraut. Wer alles Unkraut, das in der Demokratie wächst, vernichten will, wird am Ende auch dem Weizen schaden“.11)
Abschließend darf ich, unmittelbar auf die documenta fünfzehn zurückkommend, die Feststellung des Abschlussberichts des fachwissenschaftlichen Gremiums zur Begleitung der documenta fünfzehn zitieren, der ich mich grundsätzlich anschließen möchte: „Die in der documenta fifteen aufgetretenen Probleme lassen sich im Wesentlichen nicht mit den Mitteln des Rechts lösen“. Aber um das zu verstehen, muss man sich Klarheit über die Rechtslage verschaffen. Andererseits dürfen sich die politisch Verantwortlichen auch nicht hinter dem Recht verstecken und sie müssen ihrer politischen Verantwortung, innerhalb des rechtlichen Rahmens, auch nachkommen. Das Geschehen um die documenta fifteen offenbarte in dieser Hinsicht erhebliche Defizite."
Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Verfasser am 14. März 2023 vor der Juristischen Gesellschaft zu Kassel gehalten hat.
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